Europäisierung des Gesundheitswesens aktiv gestalten
2001 +++ P. Oberender +++ Quelle: RPG 7:3 (2001), 79-89
"Die Europäische Union stellt einen Binnenmarkt
dar, für den die vier Grundfreiheiten (freier Waren- und Kapitalverkehr,
Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit) gelten. Aus diesen Freiheiten
und dem damit verbundenen Ursprungslandprinzip ergibt sich ein Wettbewerb
der Systeme und Regionen. Im Gesundheitswesen kommt das Ursprungslandprinzip
allerdings kaum zur Geltung; die Gesundheitssysteme unterliegen nach wie vor
einer scharfen territorialen Abgrenzung (Territorialprinzip mit einer markt-
und einer institutionsbezogenen Komponente)." "Sinnvoller ist es daher, die Risiken und Chancen der
europäischen Herausforderung anzunehmen, das Territorialprinzip abzuschaffen
und im Zuge einer Systemöffnung die Europäisierung der Gesundheitssystem
aktiv zu gestalten." "Gemäß § 16 I Nr. 1 SGB V ruhen Ansprüche
auf Leistungen aus der gesetzlichen Krankenversicherung, solange sich Versicherte
im Ausland aufhalten." "Um ein staatlich legalisiertes Kartell handelt es sich
auch bei den Kassenärztlichen Vereinigungen. Im Rahmen der Selbstverwaltung
nehmen diese Körperschaften Ordnungs-. und Steuerungsaufgaben wahr. Unter
anderem haben sie einen Sicherstellungsauftrag. Haben Kassen und Patienten
aber die Möglichkeit, ohne weiteres ins europäische Ausland auszuweichen,
so wird die Grundlage dieses Kartells brüchig. Werden ausländische
Ärzte in die Leistungserbringung mit einbezogen, so werden die Lenkungsaufgaben
der Kassenärztlichen Vereinungen systematisch unterlaufen. Grundsätzlich
steht damit die Wirksamkeit aller Systemelemente, die zu einer Systemsstabilisierung
in nationalem Rahmen beitragen sollen, in Frage. Das gilt für die Budgetierung
genauso wie für die Bedarfsplanung im stationären Sektor." "Es wurde aufgezeigt, dass eine Integration der Gesundheitsmärkte
unausweichlich ist und dass dies tendenziell Elemente der nationalen Gesundheitssysteme
in Frage stellt. Das impliziert aber, dass auch die institutionelle Komponente
des Territorialprinzips unhaltbar wird. Die EU-Staaten sollten daher nicht
nur eine Integration der Gesundheitsmärkte anstreben, sondern auch eine
Integration der Gesundheitssysteme auf institutioneller Ebene zulassen." "Jede europäische Krankenversicherung sollte ihren
Kunden einen gesamteuropäischen Krankenversicherungsschutz gewähren.
Sinnvollerweise kann dies über eine Kostenerstattung von im europäischen
Ausland in Anspruch genommenen Leistungen geschehen unabhängig
davon, welche Erstattungsform in dem System sonst praktiziert wird. Eine Erstattung
geschieht dann auf Basis inländischer Sätze. Das muss aber nicht
der Endpunkt der Entwicklung sein. Zweckmäßig für jede Krankenkasse
ist auch der Aufbau eines europäischen Vertragsnetzes." "In allen Staaten bedarf es daher mehr oder weniger
weitgehender Reformen, um eine Systemöffnung möglich zu machen.
Dabei muss es vor allem um den Abbau interner Regulierungen gehen. Im deutschen
System betrifft dies insbesondere die korporatistischen Strukturen und den
Risikostrukturausgleich zwischen den gesetzlichen Krankenversicherungen. Der
Risikostrukturausgleich in seiner jetzigen Ausgestaltung ist nichts anderes
als ein Bestandsschutz für die deutschen gesetzlichen Krankenversicherungen.
Es ist ohne weiteres einsichtig, dass ein solcher Ansatz in einem europäischen
System fehl am Platze ist."