Keine Sozialpolitik zu Lasten der Menschen- und Grundrechte

Die Grundrechte gehen über die Sozialpolitik

2001 +++ Karl Albrecht Schachtschneider / Angelika Emmerich-Fritsche +++ Quelle: Dies., Rechtsgutachten zum Recht der Vertragsärzte des SGB V im Auftrag der Vertragsärztlichen Vereinigung Nord-Württemberg

Auszüge aus dem Rechtgutachten von Prof. Dr. jur. Karl Albrecht Schachtschneider und Dr. jur. Angelika Emmerich-Fritsche, erstell im Auftrag der Vertragsärztlichen Vereinigung Nord-Württemberg:

"Das Solidarprinzip findet seine Verfassungsgrundlage im Sozialprinzip der Republik, dem Prinzip der Brüderlichkeit. Es wird dadurch verwirklicht, dass der Gesetzgeber die Menschen- und Grundrechte achtet."

"Eine besondere Solidargemeinschaft der Mitglieder der Gesetzlichen Krankenversicherung besteht nicht, weil fast die gesamte Bevölkerung sozialversichert ist. Der Gesetzgeber kann Solidarität über das Sozialprinzip hinaus nicht vorschreiben, sondern lediglich Solidargemeinschaften ordnen und stärken. Das Solidarprinzip rechtfertigt keine Sozialpolitik zu Lasten der Menschen- und Grundrechte."

"Das Sachleistungsprinzip als durchgängiger Grundsatz des SGB V ist verfassungswidrig. Es findet keine Stütze im Solidarprinzip, weil dieses nicht gegen die Menschen und Grundrechte gewendet werden darf. Reglementierungen, welche Beschränkungen von Grundrechten, namentlich Art. 12 Abs. 1, Art. 14. Abs. 1, Art. 9 Abs. 3 GG, oder von grundrechtsgleichen Grundfreiheiten, namentlich die Dienst- und die Niederlassungsfreiheit (Art. 39 ff. EGV), bewirken, können mit dem Sachleistungsprinzip nicht begründet werden. Damit ist das gesamte System der Gesetzlichen Krankenversicherung verfassungsrechtlich in Frage gestellt."

"Das Aufsichtssystem des SGB V missachtet die Privatheitlichkeit der Kassenärztlichen Vereinigung und ist darum verfassungswidrig."

"Trotz des Status der Kassenärztlichen Vereinigung als öffentlich-rechtliche Körperschaften bleiben diese material privatheitlich und büßen ihre Grundrechtsberechtigung wegen der gesetzlichen Aufgabenzuweisungen nicht ein."

"Die Kassenärztlichen Vereinigungen sind, wie alle berufsständischen Selbstverwaltungskörperschaften, grundrechtsfähig und grundrechtberechtigt."

"Die Vertragsärzte üben eigenständige freie Berufe aus. Ihre Tätigkeit gehört nicht zum öffentlichen Dienst. Die Vertragsärzte haben keine ‚staatlich gebundene Berufe‘, weil sie schon aus demokratierechtlichen Gründen nicht institutionell Teil des Staates sind."

"§§ 71, 85 Abs. 3 S. 2 SGB V sind mit Art. 9 Abs. 3 GG nicht vereinbar, weil der Grundsatz der Beitragssatzstabilität die gesundheitspolitische Tarifautonomie im Keim beeinträchtigt, aber nicht gerechtfertigt werden kann und zudem das Verhältnismäßigkeitsprinzip missachtet."

"Die Zulassungsbeschränkungen sind angesichts ihrer nur bedingten Eignung als schärfstes grundrechtsbeschränkendes Mittel nicht erforderlich."

"Die Bedarfszulassung ist zur Sicherung der Finanzierung des Gesundheitswesens nicht erforderlich und schon gar nicht gerechtfertigt."

"Die Zulassungsbeschränkungen sind jedenfalls unangemessen."

"Das Ende der Zulassung wegen Erreichens der Altershöchstgrenze verletzt Art. 12 Abs. 1 GG, weil die Alterhöchstgrenze vor der Berufsfreiheit nicht gerechtfertigt werden kann und ihre Begründung mit einer altersbedingten Leistungsschwäche widersprüchlich, undifferenziert und menschenverachtend ist."

"Das Ende der Zulassung wegen der Alterhöchstgrenze verstößt gegen Art. 14 Abs. 1 GG, weil es dem Vertragsarzt die Praxis und die Arbeit nimmt, sein Eigentum."

"Die altersbedingte Zulassungssperre ist unverhältnismäßig und damit verfassungswidrig."

"Die Zulassungsschranke des Alters von 55 Jahren des § 98 Abs. 2 Nr. 12 SGB V verletzt die Niederlassungsfreiheit des Art. 43 EGV, weil für diesen Eingriff keine hinreichenden Allgemeininteressen bestehen."