Hat die deutsche gesetzliche Krankenversicherung noch eine Überlebenschance in Europa?

Solidarität, Selbstverwaltung, Sachleistung und Pluralität als Grundpfeiler

2001 +++ Jost Brökelmann +++ Quelle: unveröffentlichtes Manuskript

Kürzlich hat Herbert Rebscher, Vorstandsvorsitzender des Verbandes der Angestelltenkrankenkassen, über die Weiterentwicklung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) öffentlich nachgedacht (Rebscher 2001). Er plädiert für den Erhalt der Grundpfeiler der GKV. Als Grundpfeiler nennt er Solidarität, Selbstverwaltung, Sachleistung und Pluralität. Im folgenden sollen diese Grundpfeiler der GKV unter die Lupe genommen und überlegt werden, ob sie im neuen, heranwachsenden Europa noch Bedeutung haben werden.

Solidarität

Laut Duden bedeutet Solidarität "Zusammengehörigkeitsgefühl, Gemeinsinn". Der Brockhaus (1995) schreibt: "Als Gemeinsinn eigentlich eine zeitlose Erscheinung, wurde in neuerer Zeit v.a. die Arbeiterbewebung durch Solidarität in Gesinnung und Handeln geprägt; Voraussetzung dafür war das Bewusstsein der gemeinsamen Interessenlage oder (nach marxistischem Sprachgebrauch) ein entwickeltes Klassenbewusstsein".

Was die herrschende Regierung unter Solidarität versteht, hat sie mit dem Solidaritätsstärkungsgesetz 1998 demonstriert: Die GKV erhält nur eine bestimmte Geldsumme (Globalbudget); die Pflichtversicherten verlieren ihr Recht auf Kostenerstattung privatärztlicher Behandlung; die Beiträge zur GKV bleiben stabil; es wird ein strikter Sparkurs verordnet, dazu wird eine verstärkte Solidarität angemahnt (Brökelmann 1999).

Solidarität entpuppt sich immer mehr als ein Schlachtenruf von Sozialpolitikern, die das System der GKV, das aus dem 19. Jahrhundert stammt, in das 21. Jahrhundert hinüber retten wollen. Dabei halten die GKV-Versicherten offenbar wenig von Solidarität, denn sie laufen in Scharen aus den Ersatzkassen und den AOKen zu den "billigeren" Betriebskrankenkassen über und bringen damit das ganze System der GKV ins Wanken.

Selbstverwaltung

Die deutsche Selbstverwaltung ist mittelbare Staatsverwaltung. Sie wurde zu Anfang des 19. Jahrhunderts nach der fürchterlichen Niederlage Preußens durch die Franzosen geschaffen (u.a. Stein-Hardenbergsche Reformen) und ist ein typisch deutscher Sonderweg zwischen direkter Staatsverwaltung und Marktwirtschaft. Selbstverwaltungsorgane, z.B. die KVen, sind öffentlich-rechtliche Institutionen und unterliegen staatlicher Aufsicht; als Ausdruck ihrer staatlichen Hoheit führen sie ein Amtssiegel.

Diese mittelbare Staatsverwaltung ist in den europäischen Verträgen von Amsterdam und Maastricht nicht berücksichtigt worden. Entweder hat die deutsche Regierung damals die Brisanz einer solchen Nicht-Berücksichtigung nicht erkannt; oder ihr war bewusst, dass sie für die deutschen Selbstverwaltungsorgane keinen Sonderstatus in den europäischen Verträgen erlangen würde. Jetzt für die deutschen Selbstverwaltungsorgane Rechtssicherheit zu fordern, kommt reichlich spät (Rebscher 2000).

Es ist unwahrscheinlich, dass die EU die freie Marktwirtschaft, auf der die europäische Vereinigung beruht, beschneiden wird, um deutsche Selbstverwaltungsorgane zu erhalten. Die deutsche Regierung kann entweder die Selbstverwaltungsorgane in ihren Funktionen einschränken oder versuchen, den Umwandlungsprozess des deutschen Gesundheitswesens hinauszuzögern. Ob sie den Deutschen damit langfristig gesehen einen guten Dienst erweisen wird, ist zweifelhaft. Deutschland wäre auf dem Gebiet des Gesundheitswesens ein Bremsklotz in Europa, kein Motor.

Sachleistung

Sachleistung bedeutet, dass der Kunde, in diesem Fall der Bürger, eine Leistung erhält, ohne dafür direkt zahlen zu müssen. Der GKV-Versicherte zahlt mit seinem Beitrag, der ihm zwangsweise vom Lohn abgezogen wird. Er muss die Sachleistung akzeptieren, wie sie das System vorhält. Wenn er die Kassenleistung ausschlägt und die Leistung als Privatbehandlung (mit Rechnung) kauft, erhält er noch nicht einmal einen Kassenanteil erstattet. Das Sachleistungssystem steht damit im krassen Gegensatz zum Ideal des mündigen Bürgers, welches die Grundlage des sich vereinigenden Europas ist. Es verhindert zudem ein Kostenbewusstsein der GKV-Versicherten, da es die Information über die Kosten einer Leistung dem Versicherten vorenthält.

Der Bürger wird durch das Sachleistungssystem unmündig gehalten – ein klarer Verstoß gegen die Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Das Sachleistungssystem passt also von seinem Prinzip her nicht mehr in die heutige Gesellschaft, die durch Selbstbestimmungsrecht der Bürger gekennzeichnet ist.

Pluralität

Die Pluralität oder Vielfältigkeit ist eine Worthülse, die Herr Rebscher nicht näher erläutert. Tatsache ist, dass Rebscher im selben Aufsatz schreibt "Grund- und Wahlleistungsmodelle sind innerhalb der GKV ein systemfremder und schädlicher Ansatz. Der Leistungskatalog muss zwingend einheitlich und verbindlich vorgegeben und darf nicht Gegenstand des Wettbewerbs sein. Nur so kann ein gleichmäßiges Versorgungsniveau für alle Versicherten gesichert und Risikoselektion sowie kostentreibender Wettbewerb vermieden werden".

Diese Forderung klingt nach Einheitsversicherung statt Vielfältigkeit der Krankenkassen.

Fazit

Die vier Grundpfeiler der GKV – nach Rebscher Solidarität, Selbstverwaltung, Sachleistung und Pluralität – sind Begriffe aus der Arbeiterbewegung und aus der preußischen Staatsverwaltung; sie sind in den europäischen Verträgen und in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union nicht verankert (Charta 2000). Sie gehören damit der Vergangenheit an. In der jetzigen Form hat die GKV kein Chance im zukünftigen Europa (Baier 1998, Hankel 1999, Münnich 1999, 2000). Es ist dringend notwendig, dass die GKV in ein zeitgemäßes und zukunftsträchtiges Versicherungssystem umgewandelt wird. Dieses wird gekennzeichnet sein durch Mündigkeit des Bürgers, allgemeine Versicherungspflicht, Kostenerstattung und Achtung der Menschenrechte.

Das Europäische Parlament in Straßburg hat jetzt beschlossen, dass ein einheitliches Gesundheitssystem in Europa geschaffen werden soll, mit einer Versicherungspflicht für die Basisversorgung und privaten Zusatzversicherungen. Das EU-Parlament bekräftigt damit, dass das deutsche Modell eines staatlich gelenkten, korporatistischen Gesundheitssystems obsolet ist.

Literatur:

Baier, H.: Abschied vom Sozialstaat? Arzt & Wirtschaft 1/98, 8

Brökelmann, J.: Solidaritätsstärkungsgesetz – ein Gesetz zur Stärkung des staatlichen Dirigismus im deutschen Gesundheitswesen. BAO-Info I/99, 2-3

Europäische Eunion: Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2000

Hankel, W.: Das System zerstört sich selbst. Herrschaft der Kassen über Ärzte, Patienten und deren Rechte ist weder legal noch legitim. ZBW 9/1999,33-35

Münnich, F.E.: Zwischen Skylla und Charybdis. Das deutsche System der gesetzlichen Krankenversicherung zwischen EuGH und BVerfG und zwischen mehr Staat und mehr Markt. Forum für Gesellschaftspolitik 10/1999, 236-244

Münnich, F.E.: Hat die Selbstverwaltung noch eine Zukunft? Plädoyer für eine echte Selbstverwaltungslösung ohne mehr Staat. Forum für Gesellschaftspolitik 5/2000, 113-116

Rebscher, H.: Rechtssicherheit erforderlich. Hat der deutsche Weg der selbstverwalteten Sozialversicherung Bestand? gpk 5/2000, 3-5

Rebscher, H.: Konzepte statt Aktionismus. Weiterentwicklung der gesetzlichen Krankenversicherung. gpk 2/2001, 3-7