Der niedergelassene Facharzt passt nicht mehr in das System des deutschen Sozialstaates, er ist aber für das neue Europa gut gerüstet
2002 +++ Jost Brökelmann +++ Quelle: ambulant operieren 2/2002, 66-68Der
niedergelassene Arzt - Sklave des deutschen Sozialstaates
Die Situation des deutschen niedergelassenen Facharztes, der im System der gesetzlichen
Krankenversicherung (GKV) eingebettet ist, ist schwierig: Die Krankenkassen
haben den Fachärzten den Kampf angesagt; sie wollen die Fachärzte am liebsten
wieder in das Krankenhaus zwingen, denn dort können sie sie am besten "verwalten".
Und da die jetzige Regierung aus SPD und Grünen die Krankenkassen zum Hauptspieler
der Selbstverwaltungsorgane machen will, sind die niedergelassenen Fachärzte
existentiell bedroht. Auf dem Papier sind niedergelassene Ärzte zwar Freiberufler,
die mit ihren Kassenärztliche Vereinigungen (KVen) eine Arbeitsübereinkunft
haben. In Wirklichkeit sind sie jedoch Sklaven des deutschen Sozialstaates,
speziell des GKV-Systems, das ca. 90 % der Bevölkerung beherrscht.
So werden die Vertragsärzte u.a. gezwungen, Leistungen in roten Zahlen zu erbringen.
Alles, was sie Privatpatienten anbieten, müssen sie auch Kassenpatienten unabhängig
von der jeweiligen Vergütung anbieten, auch wenn sie sich z.B. mit der Operation
von Kassenpatienten wegen der Kostenunterdeckung in den eigenen Ruin operieren
würden. Der Vertragsarzt hat keine Vertragsfreiheit mit den Krankenkassen. Jetzt
wird ihm sogar das Recht auf freie Meinungsäußerung abgestritten. So hat kürzlich
das Sozialgericht Köln das Argument der Krankenkassen akzeptiert, es sei den
Krankenkassen nicht zuzumuten, mit einem Vertragsarzt zusammenzuarbeiten, der
sich im Internet für das System der Kostenerstattung ausspricht; denn Kostenerstattung
sei systemwidrig; deswegen sei es rechtens, ihm die Kassenzulassung zu entziehen
(SG Köln S 19 KA 186/00).
Sozialstaatsprinzip gegen individuelle Freiheitsrechte
Die Situation in Deutschland ist durch einen Politik-beherrschten, d.h. ideologisierten,
verwaltungstechnisch aufgeblähten Sozialstaat gekennzeichnet. Creifelds Rechtswörterbuch
(2000) definiert den Sozialstaat folgendermaßen:
"Sozialstaat wird ein Staat genannt, der dem Postulat der sozialen
Gerechtigkeit in Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung möglichst weitgehend
nachzukommen versucht.
So müssen heute die Vertragsärzte erleben, dass sowohl die Vertrags-(Koalitions-)freiheit
(Art. 9 Grundgesetz GG), die Berufsfreiheit (Art. 12 GG) und die Eigentumsgarantie
(Art. 14 GG) mit dem Argument "Gemeinwohl geht vor Grundrechten" eingeschränkt
werden. In diesem Sinne argumentierte das Bundesverfassungsgericht bezüglich
der 55-Jahresgrenze für die Vertragsarzt-Zulassung (1 BvR 491/96, Beschluss
vom 20.02.2001).
Ziel des Sozialstaates ist es danach, größere soziale Unterschiede innerhalb
der Gesellschaft abzubauen und jeder Bevölkerungsgruppe einen angemessenen Lebensstandard
zu sichern.
Das Sozialstaatsprinzip ... begrenzt individuelle Freiheitsrechte".
Sachleistungsprinzip gegen freien Dienstleistungsverkehr in Europa
Das deutsche Sozialstaatsprinzip verletzt nicht nur die Grundrechte der Freiberufler,
es begrenzt auch durch sein Sachleistungsprinzip den freien Dienstleistungsverkehr
innerhalb von Europa und verletzt damit europäisches Recht.
Die Europäische Union (EU) ist auf die Grundsätze der Freiheit, Demokratie,
Rechtsstaatlichkeit und nicht zuletzt auf die Achtung der Menschenrechte und
der Grundfreiheiten aufgebaut. Zu den Grundfreiheiten gehört u.a. der freie
Dienstleistungsverkehr. Nach europäischen Recht hat der freie Dienstleistungsverkehr
eindeutig Vorrang vor nationalen Gesetzen und Regelungen, auch im Gesundheitswesen.
So hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) unter namentlicher Nennung von Deutschland
am 12. Juli 2001 beschlossen: Das Sachleistungsprinzip muss hinter die Grundfreiheiten
zurücktreten (EuGH C-157/99). Dieses bedeutet das Ende des deutschen Sozialstaates
in seiner jetzigen Form.
Der niedergelassene Arzt ist in Europa freier Unternehmer
Entgegen der Situation in Deutschland hat der niedergelassene Arzt in der Europäischen
Union eine durch Gerichtsentscheide gesicherte Position als Freiberufler: Er
ist Unternehmer (EuGH C-180/98 - C-184/98) und genießt als solcher die Unternehmerfreiheiten
nach Artikel 16 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Er genießt
Niederlassungsfreiheit, Berufsfreiheit und Vertragsfreiheit. Die Grenzen seines
Handelns sind die Wettbewerbsregeln der EU.
Das europäische Recht definiert Unternehmen funktional nach dem Motto "Unternehmen
bewirken etwas am Markt". Danach zählen alle - niedergelassene Ärzte, Krankenhäuser,
Krankenkassen, Ärztekammern, KVen und Ärzteversorgungen - zu den Unternehmen.
Europa kennt nur Mitgliedsstaaten und Unternehmen, keine halbstaatlichen
Selbstverwaltungsorgane
Das europäische Kartellrecht kennt nur Unternehmen und Mitgliedsstaaten; es
kennt keine Selbstverwaltungsorgane wie KVen und Krankenkassen. Das heißt, die
deutschen Selbstverwaltungsorgane sind nationale Auslaufmodelle. Sie müssen
europäischem Recht weichen. Sie müssen entweder private Unternehmen oder unmittelbare
Staatsorgane werden.
Europa-Parlament verlangt amtliche Gebührenordnung
In Anbetracht der Tatsache, dass nationale Gesundheitssysteme wie das deutsche
Selbstverwaltungssystem gegen europäisches Recht verstoßen können und dass Unternehmen
wie Ärzteverbände und Krankenkassen keine Preise festsetzen dürfen, hat das
europäische Parlament schon im Jahre 2000 empfohlen, dass die Mitgliedsstaaten
eine einheitliche Basisversicherung und zusätzliche Krankenversicherungen, d.h.
Grund- und Wahlleistungen, einführen sollen; außerdem hat es im Jahre 2001 beschlossen,
dass jeder Mitgliedstaat eine amtliche ärztliche Gebührenordnung für Freiberufler,
also auch für Ärzte erstellen soll; denn nur solche staatlichen Gebührenordnungen
sind vom europäischen Kartellrecht ausgenommen.
Die Regierung verschweigt bewusst europäische Vorgaben
Diese für Deutschland wichtige Entwicklung wurde bislang von der Politik und den
Selbstverwaltungsorganen völlig negiert. Auch die angeblich freie Presse hat die
Beschlüsse des Europa-Parlaments nicht verbreitet. Dass die Regierenden jedoch
über die Brisanz der Situation Bescheid wussten, ist u.a. einer Veröffentlichung
von P. Schmidt, dem gesundheitspolitischen Referenten der SPD-Bundestagsfraktion,
zu entnehmen (RPG 7:4 (2001). Schmidt beschreibt zutreffend, worum es bei der
Reform des deutschen Gesundheitswesens geht: Auf der einen Seite stehen die Befürworter
des europäischen Wettbewerbsprinzips in Gestalt der Grundfreiheiten und des Kartellrechts,
auf der anderen Seite die Befürworter des "deutschen Sonderweges" in Form des
Korporatismus und des Sachleistungsprinzips. Dann fährt er fort: "Wenn das Sachleistungsprinzip
hinter die Grundfreiheiten zurückzutreten hätte, stünde die ‚klassische' nationale
Gesundheitspolitik vor einem Trümmerhaufen. Unser gesamtes Leistungsrecht wäre
in Frage gestellt und müsste wohl durch das Kostenerstattungssystem ersetzt werden".
Dieses schrieb Schmidt vor dem 12. Juli 2001.
Am 12. Juli 2001 hat der Europäische Gerichtshof unter namentlicher Nennung
von Deutschland entschieden, dass das Sachleistungssystem hinter die europäischen
Grundfreiheiten zurücktreten muss (EuGH C-157/99). Damit wissen die SPD und
die deutsche Regierung, dass sie das deutsche Sachleistungssystem in ein Kostenerstattungssystem
umwandeln müssen. An dieser Tatsache kommt auch eine zukünftige deutsche Regierung
nicht vorbei.
Prinzipien einer europa-orientierten Gesundheitsreform
Mit der Entscheidung des EuGH vom 12. Juli 2001 sind die Grundlinien einer Reform
des deutschen Gesundheitswesens vorgegeben:
Der niedergelassene Facharzt ist in Europa also keine aussterbende Spezies;
er ist vielmehr der Träger einer freiberuflichen, spezialisierten Medizin und
der Helfer der in die Mündigkeit entlassenen europäischen Bürger und Bürgerinnen;
er ist der Hoffnungsträger einer ent-staatlichten und ent-ideologisierten Medizin
in Europa.