Der Arzt als Büttel des Systems

Die jüngsten Gerichtsurteile in der Kritik

2001 +++ Jost Brökelmann +++ ambulant operieren 3/2001, 105 (editorial)

Unverhohlen versuchen Deutschlands höchste Gerichte mit ihren jüngsten Urteilen, den niedergelassenen Arzt zum rechtlosen Diener eines veralteten Gesundheitssystems zu degradieren. Da verletzt das Bundessozialgericht gleich mehrfach die Grundrechte freiberuflich tätiger Ärzte: Bar gesetzlicher Grundlagen, geschweige denn unter Würdigung der Grundrechte, wird da die Pflicht zu umfassender Behandlung - auch über die Legenden des EBM hinaus - angeordnet. Höchstrichterlich wird über Kern- und Wahlleistungen im GKV-System entschieden, ohne sie zu definieren, oder es wird ein Junktim zwischen privatärztlicher und kassenärztlicher Behandlung gezogen. Solche einsamen Entscheidungen verletzen Grundrechte wie die Berufsfreiheit des niedergelassenen Arztes. Da werden die Vertragsärzte zur Zwangsarbeit für "Leistungen in roten Zahlen" verdonnert. Und das wohlwissend, dass Deutschlands Kassenärzte aus Existenzgründen auf die Behandlung GKV-Versicherter nicht verzichten können – immerhin sind über 90% der Bevölkerung in diesem längst überholten System zwangsversichert. Haben die Bundessozialrichter nicht gewusst, dass u.a. aus diesen Gründen das GKV-System in seiner jetzigen Form als verfassungswidrig eingestuft wird?

Aber das Bundesverfassungsgericht geht noch weiter: "Die Sicherung der finanziellen Stabilität der Krankenversicherung ist ein Gemeinwohlbelang von überragendem Gewicht, der Regelungen der Berufsausübung, aber auch der Berufswahl rechtfertigt...". Hier wird das Gemeinwohl – übrigens ein politischer Begriff - höher als die Verfassung angesehen; wird die öffentliche Gewalt, der Staat, zu Lasten der Grundrechte der Bürger unterstützt! Dabei sollte es gerade umgekehrt sein: Deutschlands höchste Richter sind verpflichtet, den Bürger laut Art. 93, 4a Grundgesetz vor der öffentlichen Gewalt zu schützen. Damit nicht genug, wird den Kassenärzten auch noch die gesamte Verantwortung für die öffentliche Gesundheitskasse aufgebürdet: "Dabei spielt auch eine Rolle, dass der Vertragsarzt nicht nur die Verantwortung für die Gesundheit der Bevölkerung trägt, sondern zugleich Sachwalter der Kassenfinanzen insgesamt ist." Auf welcher gesetzlichen Basis beruht die Ansicht, dass der Vertragsarzt die Verantwortung für die Gesundheit der Bevölkerung trägt? Allenfalls träfe dieses für die Kassenärztlichen Vereinigungen zu.

Noch absurder ist die Meinung, dass der Vertragsarzt der Sachwalter der Kassenfinanzen ist. Weder hat er einen Vertrag mit den Krankenkassen noch ist er Teil der Solidargemeinschaft. Als freiberuflich tätiger, niedergelassener Arzt erbringt er EBM-Leistungen für die KV. Aber der Versuch, ihn wegen seiner Grundhaltung (§1 Berufsordnung: "Der Arzt dient der Gesundheit des einzelnen Menschen und der Bevölkerung") zu zwingen, für gesetzlich Versicherte auf eigene Rechnung Leistungen zu erbringen, ist schamloses Ausnutzen eines guten Berufsethos.

Das Sozialgericht Köln entschied jetzt, dass GKV-Mitglieder kein Anrecht auf eine bestimmte Art der Durchführung einer Operation, z.B. ambulant oder stationär, minimal invasiv oder offen, hätten. Offenbar kommt es bei der Kassenleistung nicht mehr auf die Qualität der Leistung, geschweige denn den Wunsch der Patientin an, es muß nur noch die EBM-Leistungslegende erfüllt sein. Dem Staat reicht es, dass Kassenleistungen nur noch ausreichend sind; auch wenn es sich da um eine veraltete Operationsmethode mit längerem Krankenhausaufenthalt handelt. Damit etabliert und sanktioniert ein deutsches Sozialgericht die Zweiklassenmedizin und nimmt de facto den Kassenpatienten die freie Arztwahl.

Völlig außen vor bleibt dabei die europäischen Rechtsprechung, denn die steht im Gegensatz zur deutschen. Niedergelassene Ärzte sind nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes Freiberufler und Unternehmer. Als solche stehen ihnen die Unternehmerfreiheiten nach Art. 16 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union zu. Deutsche Krankenkassen sind Unternehmen nach europäischem Recht und Krankenkassenleistungen sind Dienstleistungen, auch wenn sie in einem Sachleistungssystem erbracht werden. Sie unterliegen dem freien Dienstleistungsverkehr in Europa.

Im Gegensatz zur deutschen Regierung und zu deutschen Gerichten fördert das Neue Europa die Menschen- und Grundrechte und das freie Unternehmertum. Die Deutschen verteidigen dagegen ein mehr oder weniger staatliches GKV-System. Der Grund dafür ist eindeutig: Die Mächtigen im GKV-System wollen ihre Macht erhalten. Immerhin geht es hier um einen 260 Milliarden-Markt! Nichts wird mehr gefürchtet als die Machtabgabe an den Bürger, was für diese mehr Freiheiten, aber auch mehr Eigenverantwortung bedeutet. Was wollen wir Europäer: Bevormundung durch nationalstaatliche Planung - oder freie Arztwahl, freie Therapiewahl, Freiberuflichkeit d. h. Unabhängigkeit des Arztes in ganz Europa? Wir stehen mitten in einem Kampf um unsere Freiheiten!