Bundesverfassungsgericht betätigt sich politisch

Der Begriff des Gemeinwohls ist ein Totschlagargument, mit dem die Verfassung unterhöhlt werden kann

2001 +++ Jost Brökelmann +++ Quelle: ambulant operieren 4/2001, 193

Eine der Aufgaben des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) ist es, die Grundrechte der Bürger gegen die öffentliche Gewalt zu wahren (Art. 93, 4a GG). In seinem neuerlichen Urteil über die Altersgrenze für Niederlassung als Vertragsarzt (1 BvR 491/96, Beschluss vom 20. März 2001, Pressemitteilung Nr. 37/2001 vom 10. April 2001) urteilt das BVerfG, dass aufgrund von vermuteten Gemeinwohlbelangen Grundrechtspositionen eingeschränkt werden dürfen. Zitat aus der Pressemitteilung des BVerfG (Hervorhebung durch Autor):

Die Sicherung der finanziellen Stabilität der Krankenversicherung ist ein Gemeinwohlbelang von überragendem Gewicht, der Regelungen der Berufsausübung, aber auch der Berufswahl rechtfertigt... Bei der Erreichung dieses Zieles hat der Gesetzgeber einen weiten Gestaltungsspielraum, den er durch die Festlegung der Altersgrenze nicht überschritten hat.“

„Die getroffenen Maßnahmen sind grundsätzlich geeignet, zur finanziellen Stabilität der Krankenversicherung beizutragen, wenn auch keine Einzelmaßnahme nachhaltig gewirkt haben mag. Ihre Festlegung im Einzelnen ist eine politische Entscheidung, die durch die Verfassung nicht vorgegeben ist. Insbesondere ist es keine Frage des Verfassungsrechts, ob sich das Gesamtziel auch auf andere Weise und besser hätte erreichen lassen.“

Dabei spielt auch eine Rolle, dass der Vertragsarzt nicht nur die Verantwortung für die Gesundheit der Bevölkerung trägt, sondern zugleich Sachwalter der Kassenfinanzen insgesamt ist.

Der Begriff des Gemeinwohls – auch Wohl der Allgemeinheit genannt – ist ein vor allem im Recht der Enteignung verwendeter Begriff (Creifelds Rechtswörterbuch 2000); auch außerhalb des Enteignungsrechts finden sich gelegentlich „Gemeinwohlklauseln“, z.B. im Planungsrecht oder bei Änderungen im Gebietsstand von Gemeinden, die zulässig sind, wenn sie dem „gemeinen Wohl“ dienen. Im Sozialgesetzbuch V hingegen wird der Ausdruck Gemeinwohl nicht benutzt.

Der Ausdruck „Gemeinwohl“ in Verbindung mit der Sozialgesetzgebung ist offensichtlich ein politischer, kein juristischer Begriff, ähnlich wie es der Präsident des Bundessozialgerichts von Wulffen für den Begriff der „Sozialen Gerechtigkeit“ geurteilt hat (von Wulffen, M.: „Soziale Gerechtigkeit – ein rechtlicher oder ein politischer Begriff?“ Bonner Ärztliche Nachrichten II/2000, 2-5).

Wenn das BVerfG eine Abwägung zwischen dem Gemeinwohlbelang und den Grundrechten vornimmt - und dies mit dem Argument der finanziellen Stabilität der Krankenversicherung tut -, betätigt es sich politisch und verfehlt seine Aufgabe, die Grundrechte gegenüber der öffentlichen Gewalt zu verteidigen. Das BVerfG urteilt unsachlich, wenn es die Grundrechte mit einem politischen Begriff zu relativieren versucht.

Das Argument des Gemeinwohlbelangs aus dem Munde oder der Feder des BVerfG ist ein Totschlag-Argument, mit dem die Verfassung unterhöhlt werden kann. Hier ist das BVerfG auf Abwegen.

Zudem ist die Auffassung des BVerfG höchst fragwürdig, dass der Vertragsarzt die Verantwortung für die Gesundheit der Bevölkerung trägt. Der Vertragsarzt ist nicht die Kassenärztliche Vereinigung. Nur letztere trägt eine Verantwortung für die Gesundheit der Bevölkerung im Rahmen ihrer gesetzlichen Aufgaben. Die KVen bedienen sich nur der freiberuflich tätigen niedergelassenen Ärzte in der Erfüllung ihrer Aufgaben. Der freiberuflich tätige Arzt hat überhaupt keinen Vertrag mit seiner KV unterschrieben, er ist nur zur vertragsärztlichen Tätigkeit zugelassen. Es bleibt Tatsache, dass der einzelne Vertragsarzt weder die Verantwortung für die Gesundheit der Bevölkerung trägt noch Sachwalter der Kassenfinanzen ist.

Das BVerfG hat außerdem die Charta der Grundrechte der Europäischen Union missachtet, indem es den niedergelassenen Ärzten, die nach Urteil des Europäischen Gerichtshofes Unternehmer sind (AZ:C-180/98 bis C-184/98), die Unternehmerfreiheiten nach Art. 16 der Charta verweigert.