Europaorientiertes Gesundheitssystem

Der deutsche Sozialstaat ist in einer Sackgasse

2001 +++ Jost Brökelmann +++ Quelle: gpk 9/2001, 32-34

Reformbedarf der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV)

Die deutsche GKV bietet seit einiger Zeit folgendes Bild: Die Ansprüche der Versicherten sind hoch (Wunsch nach optimaler Medizin), die Finanzmittel sind knapp, die Bevölkerung wird immer älter und benötigt deshalb mehr Gesundheitsleistungen, und der Fortschritt in der Medizin ist teuer – alle "optimalen" Leistungen sind mit den zur Verfügung stehenden Mitteln nicht mehr zu finanzieren.

Unter den Politikern ist es nur noch eine Frage der Opportunität, ob die Gesundheitsreform vor der nächsten Bundestagswahl oder erst danach durchgeführt wird. An der Reformbedürftigkeit selbst zweifelt niemand, der sich sachkundig gemacht hat.

Charakteristika der GKV

Historisch gesehen wurde die GKV Ende des 19. Jahrhunderts nach dem Prinzip der Subsidiarität geschaffen, d.h. Bedürftige sollten im Krankheitsfall unterstützt werden. Nach dem 2. Weltkrieg wurde die GKV zu einer umfassenden Vollversicherung für 90 % der Bevölkerung ausgebaut. Sie ist heute durch folgende Aspekte gekennzeichnet:

Gerade die Aspekte Freiberuflichkeit und freie Arztwahl berühren die Grundrechte der Bürger. So hat das Bundessozialgericht kürzlich entschieden, dass der Vertragsarzt jede Leistung, die er Privatpatienten anbietet, auch GKV-Mitgliedern leisten muss, selbst wenn er persönlich für die Leistung wegen unzureichender Vergütung zuzahlen muss. Das Bundesverfassungsgericht urteilte sogar, dass der Vertragsarzt die Verantwortung für die Gesundheit der Bevölkerung und der Sachwalter der Krankenfinanzen sei, obwohl keine Rechtsbeziehung zwischen ihm und den Krankenkassen besteht. Das Sozialgericht Köln entschied jetzt, dass GKV-Mitglieder kein Anrecht auf eine bestimmte Art der Durchführung der Operation, z.B. ambulant oder stationär oder in einem bestimmten Krankenhaus, hätten.

Offenbar kommt es nicht mehr auf eine qualitativ gute Leistung an, sondern die Leistung muss nur ausreichend sein und die EBM-Legende erfüllen. Hiermit wird Kassenmitgliedern de facto die freie Arztwahl entzogen. Gerade diese Einschränkungen der Grundrechte erfordern eine Reaktion der Bürger.

Prinzipien des neuen Europa

Europa ist und wird u.a. auf folgenden Prinzipien aufgebaut: In wirtschaftlicher Hinsicht freier Wettbewerb und freier Dienstleistungsverkehr, und ab 1.1.2002 die gemeinsame Euro-Währung. Auf politischem Gebiet sind es Menschenrechte, Demokratie und Mündigkeit der Bürger.

Nicht zuletzt hat in der Vergangenheit in Europa die soziale Komponente eine große Rolle gespielt bis hin zum Sozialstaat deutscher Ausprägung. Eine europäische Sozialunion gibt es bislang noch nicht; eine soziale Komponente werden die Europäer jedoch immer in ihren Gesundheitssystemen zu verwirklichen suchen.

Europäische Rechtsprechung

Die bisherige Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH), aber auch nationaler Gerichte hat zu folgenden Richtlinien geführt:

Bürger: Ambulante Leistungen wie z.B. Brillenkauf und Kieferoperation dürfen in allen europäischen Ländern eingekauft werden und müssen durch Kostenerstattung von den Krankenkassen ersetzt werden.

Ärzte: Alle niedergelassenen Ärzte sind Freiberufler und genießen als solche die Unternehmerfreiheiten nach Art. 16 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union.

Ärzte dürfen in einem anderen EU-Staat eine Zweigpraxis eröffnen.

Alle Ärzte in Europa gelten vor dem Gesetz als gleich qualifiziert.

Krankenkassen: Gesetzliche Krankenkassen sind Unternehmen nach europäischen Recht ("sie bewirken etwas am Markt") und unterliegen den europäischen Wettbewerbsbestimmungen. So dürfen sie u.a. keine Festbeträge für Arzneimittel festsetzen.

Kassenärztliche Vereinigungen: Zur Frage, ob die KVen Unternehmen sind, liegt bislang kein Gerichtsentscheid vor; es ist jedoch davon auszugehen, dass die KVen, die die Gesamtvergütung der Vertragsärzteschaft verteilen, Unternehmen sind, da auch sie etwas am Gesundheitsmarkt bewirken.

Berufsverbände: Den Berufsverbänden ist es untersagt, Gebührenordnungen oder Preistabellen zu erstellen. Ähnliches dürfte auch für die KVen gelten.

Die Preise für ärztliche Leistungen sollen dem Wettbewerb unterliegen.

Staat: Die Mitgliedstaaten dürfen keine Maßnahmen, und zwar auch nicht in Form von Gesetzen oder Verordnungen, treffen oder beibehalten, die die praktische Wirksamkeit der für die Unternehmen geltenden Wettbewerbsregeln aufheben könnten.

Zukunft

Deutsche Selbstverwaltungsorgane (SVO) wie Krankenkassen und KVen sind eine besondere Form der Staatsverwaltung, nämlich einer dezentralisierten. Selbstverwaltungsorgane kommen in den Verträgen von Maastricht zur Europäischen Union nicht vor. Die Europäische Union kennt nur "Unternehmen, die etwas am Markt bewirken" und Staatsverwaltungen. Für alle Unternehmen gilt europäisches Wettbewerbsrecht.

Nach europäischem Recht werden deutsche Krankenkassen als Unternehmen eingestuft. Deshalb hat ihnen das Bundeskartellamt untersagt, Festbeträge für Arzneimittel festzulegen. Als Überbrückungsmaßnahme hat jetzt die Bundesregierung die Festbeträge per Gesetz bis zum Jahre 2003 festgelegt.

Außerdem hat der Bundesgerichtshof die Frage, ob deutsche Krankenkassen Unternehmen sind, dem Europäischen Gerichtshof zur Entscheidung vorgelegt. Es ist schwer vorstellbar, dass Deutschland eine Ausnahmeregelung in Europa für seine Krankenkassen und für die KVen erhalten wird.

Auch der Versuch, sie als "funktionale" Selbstverwaltungsorgane z. B. sektorübergreifend weiterzuentwickeln, wird angesichts der Tatsache, dass sie im europäischen Wettbewerb als Unternehmen eingestuft werden, keine zukunftsweisende Lösung sein.

Die Zukunftsperspektiven sind ziemlich klar: Selbstverwaltungsorgane des deutschen Gesundheitswesens, die etwas am Markt bewirken, haben im neuen Europa über kurz oder lang keine Zukunft. Die Deutschen stehen deshalb vor der Alternative, entweder die Aufgaben der SVO an den Staat zurückzuverlagern oder den marktwirtschaftlichen Weg der Europäischen Union zu gehen.

Da mit fortschreitender Integration Europas auch die staatlichen Gesundheitssysteme sich immer mehr dem europäischen Markt werden öffnen müssen, spricht alles dafür, dass Deutschland mit seinem Gesundheitssystem auf Wettbewerb und freien Dienstleistungsverkehr setzen und nicht in ein staatliches Gesundheitssystem zurückfallen sollte.

Als Konsequenz einer solchen Entscheidung müssten Krankenkassen und KVen ihren öffentlich-rechtlichen Status verlieren, d.h. der Deutsche Bundestag müsste per Gesetz diesen Status auflösen. Die Krankenkassen müssten sich ohne öffentliche Subventionen wie andere Versicherungsunternehmen dem Wettbewerb stellen und ihren Mitgliedern z.B. eine Grundversicherung anbieten.

Die soziale Komponente sollte vom Staat übernommen werden, indem er Bedürftigen nach dem Prinzip der Subsidiarität hilft.

Die KVen könnten als Interessenvertretung der niedergelassenen Ärzte weiterbestehen, jedoch nicht als Monopol und nicht als ein Unternehmen, welches Gebühren festsetzt.

Die Krankenhäuser sind zwar keine Selbstverwaltungsorgane. Die Mehrzahl von ihnen ist jedoch in öffentlicher Trägerschaft. Subventionen aus öffentlicher Hand dürften eine Wettbewerbsverzerrung darstellen und eines Tages untersagt werden. Deshalb wäre zu überlegen, ob die Krankenhäuser nicht überwiegend in private Trägerschaft übergehen und sich so dem europäischen Wettbewerb stellen sollen.

Das neue, europaorientierte Gesundheitssystem könnte folgendermaßen aussehen: Der mündige Bürger holt sich auf Rechnung - u.U. unter Beratung eines Hausarztes - Leistungen bei den Krankenkassen, Krankenversicherungen, Krankenhäusern, Reha-Einrichtungen, Ärzten und Vertretern der Heil- und Hilfsmittel, die alle Unternehmen im europäischen Sinn sind.

Der Staat betreibt weiterhin das öffentliche Gesundheitswesen. Ein solch gestaltetes Gesundheitssystem bedeutet das Ende des nationalen Sozialstaates in Deutschland.

Es folgt daraus, dass viele Institutionen, die von dem jetzigen System profitiert haben, Macht und Einfluss verlieren werden: Die Bundesregierung wird die Macht über den milliardenschweren Gesundheitsmarkt verlieren. Die Krankenkassen werden nicht mehr mit den Zwangsgeldern der gesetzlich Versicherten rechnen können. Die KVen verlieren ihr Monopol den Krankenkassen und den Vertragsärzten gegenüber.

Die Länder und Kommunen verlieren das Krankenhausmonopol und die Vertragsärzte müssen auf das mehr oder weniger gesicherte Einkommen über die KV-Verteilung verzichten. Niedergelassene Ärzte werden im Wettbewerb stehen und zu wirtschaftlicher Praxisführung gezwungen sein. Von ihnen werden qualitätsgesicherte Leistungen verlangt. Der Bürger wird Verantwortung für seine Gesundheit übernehmen müssen. Das ist der Preis für seine Freiheit und Mündigkeit.

Gesundheitsleistungen werden nicht länger ein von der Obrigkeit geliefertes "Geschenk" sein, das von Zwangsbeiträgen (Kassenbeiträgen, Steuern) bezahlt wird. Gesundheit fällt in die Verantwortung des mündigen Bürgers.

Da eine solche Reform große Machtverschiebungen vom Staat hin zum Bürger und zu Dienstleistungsunternehmen bringt, wird der Widerstand der Verlierer groß sein. Aber die Entwicklung ist kongruent mit den Grundideen des neuen Europas, nämlich einen freien Markt aufzubauen und die Macht beim Volk, d.h. den Bürgern anzusiedeln.

Für Deutschland bietet sich die einmalige Chance, Vorreiter für ein europaorientiertes, letzten Endes europäisches Gesundheitssystem zu werden.