Vertragsverletzung durch Rechtswegzuweisung?

Anmerkungen zum EG-Vertragsverletzungsverfahren am Beispiel des Gesundheitsreformgesetzes 2000 und der Anwendung des EG-Kartellrechts durch deutsche Sozialgerichte

2000 +++ Christian Koenig, Claude Sander +++ Quelle: EuZW Heft 23/2000, 716-722

Auszüge:

(...) Innerstaatliche Rechtswegzuweisungen hingegen sind bisher noch überhaupt nicht als Gegenstand möglicher Vertragsverletzungen betrachtet worden.

Dass ein solches Szenario nicht vorschnell als abwegig abgetan werden sollte, zeigt das Beispiel des "Gesetzes zur Reform der gesetzlichen Krankenversicherung" (GKV-Gesundheitsreformgesetz 2000) von 22.12.1999. Die hier vorgenommene Zuweisung bestimmter Rechtsstreitigkeiten in die Zuständigkeit der Sozialgerichte könnte nämlich als Versuch zu bewerten sein, zu Lasten der Leistungserbringer kartellrechtswidrige Verhaltensweisen der gesetzlichen Krankenkassen gegenüber einer Überprüfung am Maßstab des EG-Wettbewerbsrechts abzuschirmen.

Soweit die Spitzenverbände der Krankenkassen Festbeträge für Arzneimittel festsetzen, fallen sie unter Berücksichtigung der EuGH-Rechtsprechung zum Unternehmensbegriff in den Anwendungsbereich des Kartellbestands (Art. 81 I EG).

Denn der EuGH ermittelt die Anwendbarkeit der Art. 81 f. EG am Maßstab des funktionalen Unternehmensbegriffs. Entgegen einer immer noch verbreiteten Meinung kommt es auf die Rechtsform, in der die Einrichtung handelt, nicht an. Entscheidend ist vielmehr die Ausübung einer wirtschaftlichen Tätigkeit durch den Wettbewerber. Art. 81 f. EG sanktionieren wettbewerbsbeschränkende Verhaltensweisen, nicht wettbewerbsbeschränkende Rechtsverhältnisse. Die Tatsache des wirtschaftlichen Handelns wird aber durch die bloß formelle Umwidmung von Privatrecht in öffentliches Recht in der Sache nicht verändert. Ob in der Rechtsdogmatik des jeweiligen nationalen Rechts formell öffentlich-rechtlich oder privatrechtlich gehandelt wird, ist für die Anwendung der Art. 81 f. EG gleichgültig. Der Unternehmensbegriff des EG-Wettbewerbsrechts ist ausschließlich tätigkeitsbezogen. Dies bedeutet, dass durch das konstituierende Merkmal der wirtschaftlichen Tätigkeit "jedes auf ein Angebot bzw. auf Nachfrage von Waren oder Dienstleistungen gerichtete, also marktbezogene Verhalten" vom Tatbestand der Art. 81 f. EG erfasst wird.

Dabei dürfte zwar die Behauptung, die Sozialgerichte seien in Streitigkeiten dieser Art nicht wirklich neutral, zu weit gehen.

Zumindest für pharmazeutische Unternehmen, deren wirtschaftliche Betätigung breiter gefächert ist und auf verschiedenen Präparaten bzw. Präparatgruppen beruht, wird die Erlangung einstweiligen Rechtsschutzes vor den Sozialgerichten damit faktisch ausgeschlossen. Tatsächlich haben die Sozialgerichte bisher – soweit ersichtlich  - keinem Arzneimittelhersteller – trotz teilweise erheblicher Umsatzrückgänge von bis zu 14,4 % - wirksamen einstweiligen Rechtsschutz gewährt. Ein Umsatzverlust von 14 bis 17 Mio. DM wurde vom LSG Nordrhein-Westfalen sogar ausdrücklich als Petitesse abgetan.

Der neugefasste § 69 SGB V ordnet nunmehr das gesamte Leistungserbringungsrecht einschließlich der Rechte Dritter dem öffentlichen Recht zu. Alle Rechtsbeziehungen zwischen den gesetzlichen Krankenkassen und ihren Verbänden einerseits und Leistungserbringern und deren Verbänden andererseits sollen sich ausschließlich nach den Regeln des Sozialversicherungsrechts richten.

Der Gesetzgeber hat somit die zuvor höchstrichterlich bestätigte Zuständigkeit der Kartellsenate für kartellrechtliche Rechtsstreitigkeiten der beschriebenen Art zu Gunsten der Sozialgerichte beseitigt.

Die Einrichtung einer kartellrechtlichen Sonderzuständigkeit der Sozialgerichte für den besonders sensiblen Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung und die damit einhergehende Durchbrechung der angestrebten Gesamtzuständigkeit der Kartellgerichte lässt sich überzeugend nur als Reaktion auf die Rechtsprechung der Zivilgerichte zur Kartellrechtswidrigkeit von Festbeträgen und Arzneimittel-Richtlinien und das hierdurch ausgelöste Drängen der Sozialversicherungsträger erklären, die Kassenverbände vor der Anwendung des Kartellrechts zu "schützen".

Denn mit der Zuweisung zu den Sozialgerichten verfolgte der Gesetzgeber offensichtlich das Ziel, die Anwendung des EG-Kartellrechts auf kostendämpfende Maßnahmen der Sozialversicherungsträger soweit wie möglich auszuschließen.

Den Mitgliedstaaten obliegt nach Art. 10 I EG jedoch die gemeinschaftsrechtliche Pflicht, in vollem Umfang die Anwendung des Gemeinschaftsrechts, also auch der Art. 81 f. EG, durch die innerstaatlichen Gerichte sicherzustellen, um den subjektiven Rechten, die sich für Unionsbürger aus dem Gemeinschaftsrecht ergeben, zur praktischen Wirksamkeit zu verhelfen. Die nationalen Gerichte ihrerseits müssen das Gemeinschaftsrecht so anwenden, dass dessen Einheit und Wirksamkeit gewährleistet ist.

Die nachzuweisende "wesentliche Existenzgefährdung" macht es betroffenen Arzneimittelherstellern nahezu unmöglich, unter Berufung auf einen aus dem EG-Kartellrecht abgeleiteten Anordnungsanspruch einstweiligen Rechtsschutz zu erlangen. Die restriktive Gewährung einstweiligen Rechtsschutz durch die Sozialgerichte verhindert damit die effektive Durchsetzung des EG-Kartellverbots in dem hier betroffenen Bereich der gesetzlichen Krankenversicherung und kommt im Ergebnis einem materiellen Ausschluss des EG-Kartellrechts nahe.

Die mitgliedstaatlichen Gerichte übernehmen nämlich – soweit sie die dezentrale Kontrolle der Anwendung des Gemeinschaftsrechts wahrnehmen – die Aufgabe funktionaler Gemeinschaftsgerichte. In diesem Zusammenhang haben sie die volle Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts sicherzustellen.

Und in seiner Entscheidung im Fall Salgoil betonte der EuGH, dass die mitgliedstaatlichen Gerichte verpflichtet sind, die Interessen derjenigen zu wahren, die durch eine Verletzung des Gemeinschaftsrechts betroffen sind, indem sie diesen "einen unmittelbaren und sofortigen Schutz gewähren". Diese Pflicht ist im vorliegenden Zusammenhang umso höher einzuschätzen, als "Art. 81 EG (…) eine grundlegende Bestimmung darstellt, die für die Erfüllung der Aufgaben der Gemeinschaft und insbesondere für das Funktionieren des Binnenmarktes unerlässlich ist."

Der gemeinschaftsrechtlich begründeten Pflicht der Gewährung effektiven einstweiligen Rechtsschutzes in kartellrechtlichen Streitigkeiten sind die Sozialgerichte bisher nicht nachgekommen. Sie haben im Gegenteil in Form hoher Anforderungen an die Gewährung einstweiligen Rechtschutzes auf verfahrensrechtlichem Wege eine individuelle Spürbarkeitsprüfung eingeführt, die in Art. 81 EG nicht vorgesehen ist und die die Durchsetzung des EG-Kartellverbots in dem von § 69 SGB V erfassten Bereich verhindert. Damit handeln die Sozialgerichte im Rahmen einstweiliger Rechtsschutzverfahren mit EG-kartellrechtlichem Bezug derzeit nicht nach Maßgabe der alle mitgliedstaatlichen Gewalten treffenden Pflicht zur Gemeinschaftstreue (Art. 10 I EG), nach der eine EG-rechtskonforme Auslegung und Anwendung der innerstaatlichen Rechtsschutzinstitute geboten ist.

Schließlich betont der EuGH in ständiger Rechtsprechung, dass die Mitgliedstaaten auf Grund der Art. 81 f. EG i.V. mit Art. 10 EG keine Maßnahme, und zwar auch nicht in Form von Gesetzen oder Verordnungen, treffen oder beibehalten dürfen, welche die praktische Wirksamkeit der für die Unternehmen geltenden Wettbewerbsregeln aufheben könnten.

Mit der Zuweisung der in § 69 SGB V umrissenen kartellrechtlichen Streitigkeiten zu den Sozialgerichten verletzt der deutsche Gesetzgeber diese gemeinschaftsrechtliche Verpflichtung, da der im Rahmen der Zivilrechtsbarkeit gewährleistete effektive Rechtsschutz vor den nunmehr zuständigen Sozialgerichten nicht mehr gewährleistet ist.

Die Rechtswegzuweisung des GKV-Gesundheitsreformgesetzes errichtet hingegen einen Ausnahmebereich zu Gunsten der deutschen Krankenkassen und ihrer Verbände, innerhalb dessen die Befolgung des EG-Kartellrechts für die betroffenen Arzneimittelhersteller nicht oder jedenfalls nicht umgehend erzwingbar ist. Den Krankenkassen wird bewusst die Möglichkeit eröffnet, sich kartellrechtswidrig zu verhalten, ohne dass sie – wie bisher – der Erlass einstweiliger Verfügungen der Kartellgerichte befürchten müssten.

Es handelt sich bei der Rechtswegzuweisung durch das GKV-Gesundheitsreformgesetz 2000 folglich nicht nur um eine bloße Verlagerung von Entscheidungskompetenzen, sondern um eine Verkürzung des gemeinschaftsrechtlich gebotenen Rechtsschutzes. Eine solche Regelung ist mit Art. 81 f. EG i. V. mit Art. 10 EG sowie dem Gebot zur Sicherung der vollen Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts nicht vereinbar. Die Freiheit der Mitgliedsstaaten zur Ausgestaltung ihrer Rechtsschutzsysteme endet dort, wo bewusst und zielgerichtet die Möglichkeit effektiven Rechtsschutzes gegen vertragswidrige Verhaltensweisen ausgeschlossen wird. Eine Bereichsausnahme zu Gunsten der gesetzlichen Krankenkassen, die materiell-rechtlich durch nationales Recht nicht durchgesetzt werden kann, darf nicht durch die "Hintertür" einer Verfahrensregelung eingeführt werden. Schon aus kompetenzrechtlichen Gründen verfügt der deutsche Gesetzgeber über keine Befugnis, auf der innerstaatlichen  Ebene "EG-kartellrechtsfreie Rechtschutzräume" zu schaffen.

Die Rechtswegzuweisung in § 69 SGB V verstößt somit vor dem Hintergrund der Defizite im einstweiligen Rechtsschutz nach dem Sozialgerichtsgesetz und der Gewährungspraxis der Sozialgerichte gegen Art. 81 f. EG i. V. mit Art. 10 I EG. Auch insoweit besteht die Möglichkeit, dass die Kommission diesen Verstoß – solange der Gesetzgeber den einstweiligen Rechtsschutz im Sozialgerichtsgesetz für wettbewerbsrechtliche Streitigkeiten nicht praktisch wirksam herstellt oder aber die skizzierten Rechtsstreitigkeiten den Zivilgerichten zuweist – im Wege eines Vertragsverletzungsverfahrens gegen die Bundesrepublik Deutschland aufgreift. In einem solchen Verfahren bestünde für die Bundesrepublik Deutschland kaum Aussicht auf eine erfolgreiche Verteidigung.

Fazit:

Der von der Bundesregierung beschrittene Weg, die Anwendung des EG-Wettbewerbsrechts im Bereich der Sozialversicherung durch EG-vertragsrechtswidrige Rechtszuweisungen zu verhindern, ist nicht geeignet, die kostendämpfenden Steuerungsmechanismen des nationalen Gesundheitssystems vor dem Zugriff des EG-Wettbewerbsrechts zu bewahren. Vielmehr setzt sich die Bundesrepublik Deutschland hierdurch der Gefahr der Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens gem. Art. 226 EG durch die Kommission aus.

Die Abschottung der gesetzlichen Krankenversicherung gegenüber dem EG-Kartellrecht könnte nur dann gelingen, wenn auf der gemeinschaftlichen Ebene eine umfassende Bereichsausnahme für die sozialen Sicherungssysteme der Mitgliedstaaten geschaffen würde, die diese von der Anwendung des EG-Wettbewerbsrechts freistellte. Eine solche umfassende Bereichsausnahme für die Systeme der sozialen Sicherheit ist bisher im EG-Vertragssystem, insbesondere in Art. 86 II EG, nicht vorgesehen. Auf der mitgliedstaatlichen Ebene hingegen bleibt dem Gesetzgeber – will er sich nicht selbst in Widerspruch zu Vorschriften des EG-Vertrages stellen – letztlich nur die Möglichkeit, die gesetzlichen Regelungen, auf denen die wettbewerbsrelevanten Handlungen der betroffenen Handlungsträger beruhen, so umzugestalten, dass die Einrichtungen der gesetzlichen Krankenversicherung nicht mehr als funktionale Unternehmen i. S. der Art. 81 f. EG handeln. Dies wäre etwa dann der Fall, wenn den Kassenverbänden im Rahmen der Festbetragsfestsetzung kein Raum mehr für ein eigenverantwortliches Wettbewerbsverhalten verbliebe, sich ihr Handeln vielmehr als bloßer Gesetzesvollzug und damit hoheitliches – kartellrechtsneutrales – Handeln darstellte[1].


[1] Das Bundesgesundheitsministerium hat in Reaktion auf das Urteil des OLG Düsseldorf vom 27.06.1999 über die Kartellrechtswidrigkeit des gegenwärtigen Festbetragsfestsetzungsverfahrens die gemeinschaftsrechtskonforme Umgestaltung des Festbetragsfestsetzungsverfahrens angekündigt und eine Neuregelung vorgeschlagen, deren Kern die Festsetzung der Festbeträge durch Rechtsverordnung ist; s. hierzu Schwerdtfeger, NZS 2000, 67 ff.