Sachleistungsprinzip versus Kostenerstattung
1998 +++ Jost Brökelmann +++ BAO-Info II/98, 2-4Seit
Aufkommen der Kostenerstattung ist es strittig, ob Erstattungsgelder, die an
Kassenmitglieder fließen, von der Gesamtvergütung der Kassenärzte
abgezogen werden dürfen oder nicht. Da Kostenerstattung nur für privatärztliche
Behandlung erfolgt, hat Kostenerstattung prinzipiell nichts mit der Gesamtvergütung
im Sachleistungssystem der gesetzlichen Krankenversicherung zu tun. Dieses ist
u.a. auch die Argumentation des Justitiars der Kassenärztlichen Bundesvereinigung
(KBV) Schirmer und diejenige des stellvertretenden Geschäftsführers
der KBV Dr. Krimmel (L. Krimmel: Kostenerstattung und Individuelle Leistungen.
Deutscher Ärzteverlag 1998). Erst die Einführung der Budgetierung
der Gesundheitsausgaben durch Seehofer 1993 und die Einführung der Kostenerstattung
für alle Pflichtversicherten im 2. NOG 1997 ließen die Kostenerstattung
als Schlupfloch aus der Zwangsjacke der Budgetierung attraktiv werden. Die Kostenerstattung
war und ist eine Waffe der Kassenärzte gegen die staatliche Budgetierung.
Diese Waffe ist jetzt von einigen KVen, voran der KV-Nordrhein,
gegen Geld verkauft worden: Die AOK akzeptiert offenbar bundesweit nur noch
Verträge über die Gesamtvergütung, wenn in dem Vertrag der
Abzug der Kostenerstattungsgelder mit der jeweiligen KV vereinbart wird. So
einfach ist das: Eine sichere Rechtsposition wird für Geld aufgegeben;
die KVen sind also käuflich. Da die Masse der Kassenärzte - vornehmlich Hausärzte
und hausärztlich tätige Internisten - mit der Kostenerstattung wenig
im Sinn haben und möglichst viel Geld aus der Gesamtvergütung "sehen"
wollen, haben die Kassen leichtes Spiel mit den KVen: Sie können derzeit
die Konditionen diktieren. Es ist ein Trauerspiel: Die KBV hat ein Großteil der
einstigen Macht an die Landes-KVen verloren; diese wiederum sind von Gruppen
beherrscht, die anscheinend nur noch nach dem Geldbeutel schauen. Die spezialisierten
Ärzte gehen in diesem System unter. Dieses System ist das halbstaatliche deutsche Gesundheitssystem,
in dem die Hauptakteure (Krankenkassen, KVen, Ärztekammern) als halbstaatliche
"Selbstverwaltungsorgane" staatsabhängig sind und in dem die
Krankenhäuser (nur 16 % der Krankenhäuser sind privat) überwiegend
Interessen im öffentlichen d.h. staatlichen Sinne verfolgen. Das deutsche
Gesundheitssystem ist durch das Sachleistungsprinzip gekennzeichnet: 90% der
deutschen Bevölkerung erhält Gesundheitsleistungen nur als Sachleistung,
sowohl in den Arztpraxen als auch in den Krankenhäusern. 90% der Bevölkerung
weiß also nicht, was ihre Gesundheit oder Krankheit kosten. Das ist in den übrigen europäischen Ländern
anders, dort herrscht überwiegend das Kostenerstattungsprinzip vor, d.h.
die Bürger werden durch Rechnungen über die Kosten informiert. Durch
die jüngsten Gerichtsurteile des Europäischen Gerichtshofs (EuGH)
wurden sowohl das Kostenerstattungssystem als auch die Freizügigkeit
des gesundheitlichen Leistungen im neuen Europa gestärkt. Dieses hat
zu heftigen Reaktionen von Gesundheitsminister Seehofer und der Bundesregierung
geführt: Das deutsche Sachleistungssystem soll gegen das freiheitlichere
Kostenerstattungssystem abgeschottet werden. Denn das Sachleistungssystem
gibt dem Staat Macht über den größten Arbeitgeber in Deutschland,
nämlich das deutsche Gesundheitswesen. Allein der Krankenhausbereich
beschäftigt mehr als 1 Mio. Arbeitnehmer, und die ambulante Gesundheitsversorgung
von 90% der Bevölkerung ist über halbstaatliche KVen budgetiert
und (noch) geregelt. Diese Macht gibt der Staat und seine von ihm abhängigen
Institutionen wie Krankenkassen, Krankenhäuser, aber auch KVen, nicht
kampflos auf. Selbst unsere Gerichte votieren in Sachen Gesundheitswesen im
Zweifel immer für den Staat und sind damit staatshörig. Vor diesem
Hintergrund werden viele der jüngsten gesundheitspolitischen Aktionen
verständlich: * Die Bundesregierung übt massiven Druck auf die europäischen
Partner aus, daß die nationalen Gesundheitssysteme (in Deutschland das
Sachleistungssystem) erhalten bleiben. * Das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) drängt
die Aufsichtsbehörden der Länder, Disziplinarverfahren gegen Kostenerstattung
praktizierende Ärzte (so u.a. den Unterzeichner) zu bewirken. * Auf Drängen des BMG und der Landesregierung Nordrhein-Westfalen
hat das Sozialgericht Düsseldorf jetzt entschieden, daß die Vertreterversammlung
der KVNo den Passus "Ärztliche Leistungen, die vom einzelnen
Vertragsarzt nicht kostendeckend erbracht werden können, müssen
von ihm nicht erbracht werden" aus dem Honorarverteilungsmaßstab
(HVM) entfernen muß. * Die Krankenkassen reagieren höchst allergisch auf
jede Ausweitung der Kostenerstattung: Die AOK-Verbände gestalten gesetzeswidrig
ihre Satzungen so, daß den Kassenmitgliedern die vom Gesetzgeber eingeführte
Kostenerstattung praktisch unmöglich gemacht wird. * Der VdAK Düsseldorf, die Dachorganisation der Ersatzkassen,
hat jetzt Antrag auf Entzug der Kassenzulassung auch des 1. Vorsitzenden des
BAO gestellt (s. Seite .. dieses Info). * Von den politischen Parteien waren die SPD und DIE GRÜNEN
schon immer Verfechter des Sachleistungssystems, denn sie wollen eine staatlich
gelenkte Gesundheitsversorgung. Aber auch in der CDU/CSU-Fraktion findet sich
derzeit keine Mehrheit für ein Kostenerstattungssystem; dieses hat einzig
die FDP auf ihre Fahnen geschrieben. Wenn der Bundestag mehrheitlich für
das alte Sachleistungssystem steht, ist es blauäugig zu glauben, daß
deutsche Gerichte ein Urteil für die Kostenerstattung fällen
werden. Genauso ist es mit der Vergütung ambulanter Operationen gewesen:
Anfänglich urteilten Gerichte, daß der Punktwert für das Ambulante
Operieren nicht unter den allgemeinen Punktwert sinken dürfe. Dann kam
aber das Bundessozialgericht und entschied für das herrschende
KV-System, weil nur dieses die Fortführung des Sachleistungssystems unter
Aufsicht des Staates garantierte. Dabei nahmen Staat und Gerichte bewußt
in Kauf, daß sie einen ganzen Berufsstand von Freiberuflern in ihren
Grundrechten beschnitten. Die Grundrechte des freiberuflich tätigen Ärzte
sind: Therapiefreiheit, Vertrags- und Koalitionsfreiheit, und Recht auf angemessene
d.h. kostendeckende Vergütung. Eigentlich sollten die KVen als Standesvertretungen
der freiberuflich tätigen Ärzte diese Grundrechte ihrer Mitglieder
verteidigen. Da die KVen aber gleichzeitig als "staatliche Selbstverwaltungsorgane"
die Interessen des Staates wahrnehmen müssen und die Pflicht zur Staatstreue
nun einmal den Deutschen seit Preußens Zeiten eingeimpft wurde, unternehmen
sie nichts, was staatlichen Interessen zuwiderlaufen könnte. Damit haben
die KVen ihr Mandat als Vertreter der freiberuflich tätigen Ärzte
verwirkt. Wir stehen also mitten in einem Kampf der Systeme: Hier das
staatlich gelenkte Gesundheitssystem, basierend auf einer Zwangsmitgliedschaft
der Arbeitnehmer und einem Sachleistungsprinzip, das den Bürgern praktisch
unmündig hält. Dort ein Gesundheitssystem, dessen ambulante Versorgung
in den Händen von freiberuflich tätigen Ärzten liegt und das
- ähnlich wie in dem Rest der Wirtschaft - durch Kostenerstattung dem
Bürger Transparenz, Kostenbewußtsein und freie Arztwahl gewährt. Das staatlich gelenkte Sachleistungssystem ist in der jetzigen
Form überholt, weil es wegen der Ansprüche der Gesellschaft nicht
mehr finanzierbar ist. Das wissen auch leitende Beamte des BMG. Den staatlichen
und halbstaatlichen Organisationen geht es jetzt nur noch um den Erhalt der
Macht. Die Freiheit von dieser Macht müssen wir freiberuflich tätigen
Ärzte und die freiheitlich denkenden Bürger hart erkämpfen.
Es ist ein Kampf der freien Bürger gegen den Staat in seinen verschieden
Facetten. Wir freiberuflich tätigen Ärzte sollten nicht erwarten,
daß diejenigen Ärzte, die die Macht in den KVen besitzen und damit
am Geldverteilungshahn sitzen, ihre Machtpositionen leichtfüßig
aufgeben werden, zumal sie vom staatlichen Gesundheitswesen unterstützt
werden. Wir Ambulanten Operateure und Anästhesisten müssen nach
wirklich Verbündeten, nach Kämpfern für die Freiberuflichkeit
des Arztberufes Ausschau halten: Zum einen sind die freien Bürger auf
unserer Seite, solange wir gute Arbeit liefern. Zum anderen setzen sich die
meisten Ärzte, die Spezialleistungen anbieten, für die Freiberuflichkeit
ein; und nicht zuletzt gibt es auch unter Hausärzten und hausärztlich
tätigen Internisten viele Ärzte, die die Freiberuflichkeit des niedergelassenen
Arztes aus grundsätzlichen Erwägungen für notwendig halten.
Wir alle müßten eine Aktion "Freie Praxis" im Gegensatz
zu "Staatlich gelenkten Polikliniken/Gesundheitszentren" ins Leben
rufen. "Nur der erwirbt sich Freiheit wie das Leben, der
täglich sie erobern muß" (Goethe).