Freiberuflichkeit erhalten

Die niedergelassenen Ärzte sichern die Qualität der Leistungen

1997 +++ Jost Brökelmann +++ Quelle: Gesellschaftspolitische Kommentare gpk Nr. 12 - Dez. 1997

Die Budgetierung der Gesundheitsausgaben führt bei zunehmendem Anspruchsdenken der Versicherten teils zu der vom Gesetzgeber gewollten Rationalisierung im Gesundheitswesen, teils jedoch auch zur Rationierung. Stagnierende oder sinkende Einnahmen der Kassenärzte belegen, daß die Reform des Gesundheitswesens zu einem guten Teil auf Kosten der Kassen-/Vertragsärzte erfolgt. Da zusätzlich ganze Leistungsbereiche wie das Ambulante Operieren seit Jahren nicht kostendeckend vergütet werden, müssen wir Ärzte uns fragen, welche Stellung wir heute in diesem Gesundheitswesen haben und welche Stellung die Ärzte in Zukunft haben sollen.

Stellung des Kassenarztes aus Sicht der Partner im Gesundheitswesen

Bundesministerium für Gesundheit
Der Bundesminister für Gesundheit Seehofer ist der Ansicht, daß Vertragsärzte öffentlich-rechtlich zugelassen werden. So sagte er in der Rede anläßlich der Vertretersammlung der KBV in Magdeburg am 9. Dezember 1995: "Wir können nicht das Einkaufsmodell zulassen, so sehr es manche wünschen; das wäre eindeutig verfassungswidrig. Man kann nicht auf der einen Seite die Vertragsärzte in öffentlich-rechtlicher Manier zulassen und anschließend über das Vertragswesen die Möglichkeit einräumen, daß man einen Vertragsarzt, der vorher öffentlich-rechtlich zugelassen wurde, faktisch über das Vertragsrecht aushebelt". - Er geht also davon aus, daß die Kassenärzte einen quasi öffentlich-rechtlichen Status haben und deshalb auch vor dem Zugriff der Krankenkassen geschützt werden müssen. In ähnlichem Sinne äußerte sich sein ehemaliger Abteilungsleiter Schulte, der meinte, die Kassenärzte seien doch gar keine Freiberufler. Die Ansicht herrscht offenbar vor, daß die Kassenärzte eigentlich Erfüllungsgehilfen einer öffentlich-rechtlichen Institution und damit des Staates sind.

Diese Haltung des Gesetzgebers beschreibt Schirmer1 zutreffenderweise so: "Aus der Selbstverwaltung mit Verhandlungsmandat zur kollektiven Gestaltung der Versorgungsaufgaben ist ein Vollzugsorgan von Gesetzesaufträgen geworden... Der Verlust an Autonomie geht einher mit einer Mutation der Kassenärztlichen Vereinigungen. Die Genossenschaft der Ärzte wandelt sich in eine träge Organisation zur Durchsetzung von Gesetzesaufträgen, also zu einem Vollzugsorgan der Exekutive. Gesetzesvollzug ersetzt autonome Normsetzung in selbstdefinierten Bereichen. Die formale Beibehaltung als 'Hülse'' kann über einen normativen Formenschwindel nicht hinwegtäuschen. Auch die allgemeine Rechtsaufsicht wandelt sich bei entsprechender Normendichte materiell in Fachaufsicht. Diese Entwicklung ist an einem Scheideweg. Ein apokrypher staatlicher Gesundheitsdienst steht ins Haus. Kassenarztrecht ist dann nicht mehr länger Partizipations- und Mitbestimmungsrecht im Verhandlungsmodell von Krankenkassen und Ärzten, sondern wäre spezielles staatliches Berufsausübungsrecht."

Kassenärztliche Vereinigungen
Die Kassenärztlichen Vereinigungen und insbesondere die Kassenärztliche Bundesvereinigung KBV anerkennen den Primat des Staates. Die KBV gibt sogar ihre Hauptaufgabe, die angemessene Verteilung der Gesamtvergütung unter die Ärzte, auf, indem sie die vom Staat vorgeschlagenen Praxisbudgets vorbehaltlos akzeptiert. Dieses war die Selbstentmachtung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung. Gleichzeitig hat sie ihre satzungsmäßige Verpflichtung, die Interessen der Kassenärzte zu wahren, negiert. Es wurde offensichtlich, daß von den Ärztevertretern Staatshörigkeit höher bewertet wird als Freiheit eines Berufsstandes.

Kassen
Die Kassenverbände sehen die Kassenärzte/Vertragsärzte lediglich als Zwangsmitglieder der Kassenärztlichen Vereinigungen, die für sie das Monopol der kassenärztlichen Versorgung halten und mit denen sie Verträge schließen müssen.

Bürger
Die Bürger interessieren sich wenig für die gesellschaftspolitische Stellung der Ärzte. Im Zuge der Entstehung einer klassenlosen Gesellschaft erheben sie den moralischen Anspruch auf Gleichbehandlung durch den Arzt und wissen häufig nicht, daß die gleiche ärztliche Behandlung sehr unterschiedlich von den Versicherungsträgern vergütet wird. Bislang wurde über diesen innerbetrieblichen Solidaraustausch in der Arztpraxis wenig geredet, einmal aus Tradition und zum anderen aus ärztlichem Ethos.

Ärzte
Die Kassen- bzw. Vertragsärzte haben sich offenbar in der Vergangenheit wenig Gedanken um ihre gesellschaftspolitische Stellung gemacht, insbesondere war das Bewußtsein gering ausgeprägt, daß sie Freiberufler sind. Seit den siebziger Jahren war es praktisch selbstverständlich, daß niederlassungswillige Ärzte die Mitgliedschaft in der Kassenärztlichen Vereinigung beantragten, weil dieses aus finanziellen Gründen notwendig war; denn 90 % der Bevölkerung sind in der gesetzlichen Krankenkasse. Eine Niederlassung nur als Privatarzt zahlt sich für die wenigsten aus. Zugleich mit dem Antrag auf Mitgliedschaft in einer KV gaben die meisten Ärzte aber auch das Denken bezüglich des herrschenden Vergütungssystems und bezüglich der Freiheiten der niedergelassenen Ärzte auf. Den meisten Kassenärzten war nicht bewußt, daß sie mit Eintritt in die KV, einer ehemaligen Genossenschaft und jetzt einer öffentlich-rechtlichen Institution, das Morbiditätsrisiko der Bevölkerung als Gesamtärzteschaft übernommen hatten. Es war und ist ihnen nicht bewußt, daß bei der jetzigen Konstruktion der gesetzlichen Krankenversicherung die Kassenärzteschaft von den Krankenkassen für eine Gesamtvergütung eingekauft wird (großes Einkaufsmodell) und für diese Geldsumme erhebliche Risiken übernehmen muß: Das Morbiditätsrisiko der Bevölkerung, das Risiko der steigenden Arztzahl und das Risiko des zunehmenden Fortschritts in der Medizin und des zunehmenden Anspruchsdenkens der Bevölkerung. Dieses Morbiditätsrisiko soll ab 1998 durch die Regelleistungsvolumina wieder etwas auf die Krankenkassen zurückverlagert werden.

Daten des Gesundheitswesens
Von den 273.900 berufstätigen Ärzten waren 1995 als Kassenärzte 108.900 niedergelassen und 132.700 im Krankenhaus tätig². Der Krankenhausbereich verschluckte 1995 doppelt so viele Mittel wie der niedergelassene Bereich (34 % der GKV-Ausgaben gegenüber 17,2 %)³. Der Anteil der im niedergelassenen Bereich behandelten Patienten betrug ca. 97 %, derjenige der im Krankenhausbereich versorgten Patienten 3 % aller Krankenfälle (Quelle 2,3). Die Zahlen belegen, daß die medizinische Versorgung der Bevölkerung zu 97 % in Händen niedergelassener Ärzte und zu 3 % im Krankenhaus liegt, daß der Bereich der Niedergelassenen jedoch in finanzieller Hinsicht weit hinter dem Krankenhausbereich zurücksteht. Dieses führte zu entsprechenden Machtverhältnissen in den berufsständigen Organisationen. Dort sind niedergelassene Ärzte in der Minderheit.

Rechtliche Stellung des Kassenarztes
"Gleichwohl enthält das Berufsbild (des Kassenarztes) wesentliche Einzelmomente des freien Berufs: Wettbewerb im Angebot und Verwiesenheit auf die Nachfrage der Patienten, Unternehmerfreiheit und Therapiefreiheit. Doch nicht Vertragsfreiheit. Statt ihrer herrscht gesetzlich auferlegte Behandlungspflicht. ...Es besteht also ein einseitiges Pflichtenverhältnis zum Patienten. Die korrespondierende Rechte fehlen. Von privatautonomer Gestaltung kann nicht die Rede sein" (Isensee 1995)4.
Auf die Frage an Bundesminister Seehofer, ob er aufgrund seiner Magdeburger Rede den Kassenärzten eine öffentlich-rechtliche Stellung mit allen Folgen einer Fürsorgepflicht des Staates geben wollte, antwortete er dem Bundesverband für Ambulantes Operieren: "Unabhängig von der Zulassung eines Arztes zur vertragsärztlichen Tätigkeit, die als öffentlich-rechtlicher Akt zu qualifizieren ist, wird dem Vertragsarzt seitens des Ministeriums ein öffentlich-rechtlicher Status nicht zugedacht. Es wird vielmehr daran festgehalten, daß die ärztliche Tätigkeit insgesamt, im besonderen aber die Tätigkeit als in eigener Praxis niedergelassener Vertragsarzt, die Ausübung eines freien Berufes darstellt. Eine Statusänderung ist nicht beabsichtigt." Die Antwort von Seehofer konfrontiert den Kassenarzt mit einer bitteren Wahrheit: Er ist Freiberufler, er ist nicht Angestellter oder Beamter und kann es auch nicht werden. Deshalb muß die zukünftige Stellung des Kassenarztes vornehmlich unter den Gesichtspunkten der Rechte und Pflichten eines Freiberuflers gesehen werden. So heißt es auch nach wie vor noch in der Berufsordnung für die Deutschen Ärztinnen und Ärzte (§ 1 Abs. 1)5: "Der Arzt dient der Gesundheit des einzelnen Menschen und der Bevölkerung. Der ärztliche Beruf ist kein Gewerbe. Er ist seiner Natur nach ein freier Beruf."
Als Freiberufler steht den niedergelassenen Ärzten Vertragsfreiheit zu (§12 Grundgesetz). Diese Berufsfreiheit der Ärzte wird grundgesetzwidrig eingeschränkt, wenn das Morbiditätsrisiko von den Versicherungsträgern auf die Kassenärzte gewälzt wird (Friauf 1996)6. Zu der Freiberuflichkeit der niedergelassenen Ärzte gibt es keine Alternative. Das Bundesministerium für Gesundheit lehnt eine Verbeamtung der Ärzte ab und die Krankenkassen stellen Ärzte nicht an. Deshalb bleibt den Kassenärzten nur, eine Standespolitik auf der Basis der Freiberuflichkeit aufzubauen. Dieses bedeutet: Wenn die Kassenärztlichen Vereinigungen die Staatshörigkeit höher bewerten als die Interessen ihrer freiberuflich tätigen Mitglieder, dann müssen sich die Kassenärzte eine neue, vom Staat unabhängige Interessenvertretung aufbauen. Dieses geschah in jüngster Vergangenheit durch die Einrichtung von kassenärztlichen Vereinen und von Verbänden für spezielle Bereiche, z.B. dem Bundesverband für Ambulantes Operieren.
Die zukünftige Arbeit der Kassenärzte ergibt sich aus ihren Grundrechten als Freiberufler, nämlich der freien Ausübung des Arztberufes, der Niederlassungsfreiheit und der Vertragsfreiheit.

Thesen

  1. Der freiberuflich tätige Arzt dient nicht in erster Linie dem Staat oder dessen Selbstverwaltungsorganen, sondern den Bürgern, seinen Patienten.
  2. Das 2. NOG beschränkt die Vertragsfreiheit der Kassen-/Vertragsärzte auf die Kassenärztlichen Vereinigungen. Dieses ist nach unserer Auffassung grundgesetzwidrig.
  3. In der vertragsärztlichen Versorgung müssen nur diejenigen Leistungen von Kassenärzten erbracht werden, die ausdrücklich vertraglich geregelt sind. So ist z.B. im Bundesmanteltarifvertrag-Ärzte nur die Veranlassung von ambulanten Operationen vertraglich geregelt, nicht die Durchführung ambulanter Operationen. Ähnliches gilt für den Arzt-/Ersatzkassenvertrag. Was nicht eindeutig vertraglich geregelt ist, kann von Kassenärzten im Sinne ihrer Freiberuflichkeit geregelt werden.
  4. Kein Arzt ist verpflichtet, Leistungen in roten Zahlen zu erbringen. Es würde gegen § 12 des Grundgesetzes verstoßen, welches dem freiberuflich tätigen Arzt die Berufsfreiheit gewährt.
  5. Die KVen sollten umgehend entscheiden, ob sie ihren staatshörigen Kurs weiterhalten wollen oder ob sie ihre Grundrechte, die sie als Interessenvertreter der freiberuflich tätigen Ärzte erhalten haben, einfordern (Schachtschneider 1997). Falls die KVen die Staatsinteressen für höher ansetzen als die Interessen der Bürger und Freiberufler, haben sie ihr Mandat verwirkt.

Zukunft
Die Krise unseres Gesundheitswesens ist eine Krise der geistigen Orientierung unserer Bürger. Die Deutschen müssen wegkommen von einer Staatshörigkeit und sich zu einem selbstbewußten Bürgertum entwickeln. Denn alle Staatsgewalt geht vom Volke aus (Artikel 20 Abs. 2 Grundgesetz). Wir müssen abrücken von der Planwirtschaft durch den Staat und seiner halbstaatlichen Selbstverwaltungs-Organe. Auch die bundesweite Verteilung einer "Gesamtvergütung" durch die KVen ist eine Art von Planwirtschaft. Gerade im Gesundheitswesen müssen wir Strukturen schaffen, die vom Bürger kontrolliert werden können und die die Staatsgewalt bei den Bürgern belassen. Dieses bedeutet im Gesundheitswesen, daß die ambulante Versorgung in privatwirtschaftlich betriebenen Arztpraxen auf der Basis der Freiberuflichkeit stattfindet und daß die Qualität der ärztlichen Leistungen auch von den Bürgern kontrolliert wird. Dazu müssen die Bürger wissen, welche Leistungen zu welchem Preis erbracht werden. Sie müssen sich gegebenenfalls über die Qualität der ärztlichen Leistung bei ihren Hausärzten oder bürgernahen Institutionen, ähnlich den Verbraucherzentralen, informieren. Was wir bei der Reform des Gesundheitswesens gebrauchen ist nicht Zentralisierung beim Staat und bei halbstaatlichen Organen, sondern Dezentralisierung auf die Ebene der Bürger, wo die Entscheidungsgewalt nach unserem Grundgesetz liegen sollte.

Anmerkungen

  1. D. Schirmer: Ärzte und Sozialversicherung II - Die Periode der Kostendämpfungspolitik; Deutsches Ärzteblatt 94, Heft 27, 4. Juli 1997,1863-1866
  2. Grunddaten zur Kassenärztlichen Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland, herausgegeben von der Kassenärztlichen Bundesvereinigung 1996
  3. Statistisches Taschenbuch Gesundheit, Bundesministerium für Gesundheit 1996
  4. J. Isensee: Das Recht des Kassenarztes auf angemessene Vergütung; VSSR 5/1995, 321-381
  5. Fassung der Beschlüsse des 100. Deutschen Ärztetages in Eisenach; Deutsches Ärzteblatt 94, Heft 37, 12. September 1997
  6. Zitat Friauf: "Gesamtvertragliche Regelungen, die das Morbiditäts- und das Frequenzrisiko auf die Vertragsärzte abwälzen, werden den verfassungsrechtlichen Anforderungen nicht gerecht."
  7. M. Hagedorn: Die Berufsfreiheit des Kassen- bzw. Vertragsarztes. Bonner Ärztliche Nachrichten II, 2-4 (1994)
  8. K. A. Schachtschneider: Grundrechtliche Aspekte der ärztlichen Selbstverwaltung, Erlangen-Nürnberg 1997